Der Ethereum Merge: Durchbruch oder Seifenblase?

Am 15. September 2022 war es so weit. Die zweitgrößte und zweitbekannteste Blockchain wurde endgültig fusioniert: ein entscheidender Augenblick für die Kryptowelt. Nachdem die Bewertungen um 70 bis 80 Prozent eingebrochen und auf den niedrigsten Stand seit zwei Jahren gefallen sind, herrscht jetzt Heißhunger. Die Zukunft ist voller Möglichkeiten, aber auch voller Unsicherheiten. Hier ein kleiner Überblick.

Valerio Baselli 29.09.2022
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Ethereum

Die Fusion von Ethereum fand am 15. September 2022 statt und war soweit erfolgreich. Trotzdem verlor der Blockchain-Token Ether (ETH) weiter an Wert. Zwischen dem 10. und 13. September wurde Ether über USD 1.700 gehandelt, am Tag vor der Fusion fiel die Kryptowährung auf USD 1.574.

Zum Börsenschluss am 15. September sank der Wert auf USD 1.432 und schwankte bis zum 18. September um diesen Kurs herum. Am nächsten Tag eröffnete der globale Markt für Kryptowährungen im Minus und drückte den ETH-Preis unter USD 1.400. Die Sitzung der US-Notenbank am 21. September (mit einer Zinserhöhung um 75 Basispunkte) versetzte den digitalen Währungen einen weiteren Schlag. Ether rutschte auf rund USD 1.250 ab.

Was ist da los? Die vernünftigste Erklärung ist, dass der Markt den Erfolg des Vorhabens schon seit langem eingepreist hatte. Tatsächlich war seit Monaten bekannt, dass der Merge im September stattfinden würde, wobei die gewieftesten Händler seit Monaten "das Gerücht kauften" und dann kurz vor oder unmittelbar nach der Fusion "die Nachricht verkauften".

Aber der Reihe nach. Was hat sich für Ethereum geändert?

Schneller, sicherer und umweltfreundlicher

Wie auch die Bitcoin-Netzwerke verwendeten die Ethereum-Netzwerke bis zum 15. September 2022 den Proof of Work-Ansatz als Konsensmechanismus, bei dem viele Computer komplexe mathematische Probleme lösen, um neue Transaktionen zu bündeln, die dann der jeweiligen verteilten Datenbank hinzugefügt werden. Der Proof of Stake-Ansatz, der seit dem Merge als Konsensmechanismus bei Ethereum eingesetzt und auch von Solana und Cardano verwendet wird, funktioniert anders.

"Der Merge ist das ehrgeizigste Upgrade der Ethereum-Blockchain in den letzten Jahren und ein wichtiger Übergangspunkt in der Geschichte der Kryptowährungen und des gesamten Ökosystems um sie herum, einschließlich des dezentralen Finanzwesens (DeFi)", sagt Stephanie Luzon, Expertin für Finanzen bei der deutschen Fintech-Firma Vivid: "Das ultimative Ziel war immer die Massenanwendung, aber Ethereum hatte mit Problemen bei Skalierbarkeit, Energieeffizienz und Sicherheit zu kämpfen. Mit der zunehmenden Zahl von Nutzern wurde die Blockchain jeden Tag überlastet, was die Transaktionen langsam und teuer machte. Ganz zu schweigen von dem hohen Energieverbrauch, der nach wie vor einer der hartnäckigsten Kritikpunkte an jenen Kryptowährungen ist, die ein Proof of Work-Protokoll verwenden".

"Seit April 2022 nutzte das Ethereum-Netzwerk zwei Blockchains", erklärt Benjamin Dean, Head of Digital Assets bei WisdomTree. „Die ursprüngliche Blockchain mit ihrem Proof of Work-Konsensmechanismus und die "Leuchtturm"-Blockchain, die Proof of Stake verwendet. Seither war es möglich, Ether einzusetzen (stake), nicht jedoch, sie wieder zurückzuziehen. Mit der Zusammenlegung der beiden Blockchains (daher der Begriff Merge, Anm. d. Red.) hat sich das geändert.

Die Umstellung auf das neue Protokoll sollte eine neue Phase einläuten, in der die oben genannten Probleme allmählich gelöst und Ethereum für normale Menschen besser nutzbar gemacht wird. Schnellere Transaktionen, ein sichereres Netzwerk und eine Reduzierung des Energieverbrauchs um 99 Prozent scheinen das Erfolgsrezept zu sein, um die Blockchain in der täglichen Praxis nutzbar zu machen.

Auch bei Kryptowährungen zeichnet sich ein ESG-Narrativ ab: Der Konsens via Proof of Work benötigt Energie, um Computer zu betreiben, die komplexe mathematische Probleme lösen. Proof of Stake dagegen benötigt weniger Energie, was einige zu der Behauptung veranlasst, dass es sich um einen ESG-freundlicheren Algorithmus handelt. "Das wird die Art und Weise verändern, wie viele institutionelle Anleger digitale Vermögenswerte betrachten", sagt Benjamin Dean.

Von "Minern" zu "Validierern“

„Aus technischer Sicht war der Merge ein Erfolg", sagt Stefano Bargiacchi von Directa SIM. Auch der Zeitpunkt war angesichts der Energiekrise in Europa optimal. "Das Gleiche gilt für die Abschläge, die Ether in den letzten Wochen erfahren hat", fährt Bargiacchi fort. „Sie haben den Zugang und vor allem die Möglichkeit, Prüfer oder Validierer zu werden, in gewisser Weise demokratisiert und für eine größere Zahl von Nutzern erleichtert.“

In dem neuen Protokoll sind die Validierer die neuen Miner. Beim alten Protokoll (das Bitcoin nach wie vor verwendet) erfolgte die Schaffung neuer Token und die Validierung von Transaktionen auf der Blockchain durch Mining, wobei der schnellste Miner die Rechenaufgabe zur Validierung der Transaktion löste. Bei Ethereum werden die Validierungsknoten jedoch durch Stakes, also durch Einsätze ausgewählt. Um Validierer zu werden, müssen mindestens 32 ETH eingesetzt werden. Danach werden die Validierer durch eine Verlosung ausgewählt, die allerdings die Nutzer mit den meisten ETH-Einzahlungen begünstigt. Zum Schluss werden die Validierer mit Provisionen belohnt, die immer in ETH ausgezahlt werden.

Dieses System ist schneller und umweltfreundlicher, möglicherweise aber weniger dezentral, was dem Blockchain-Ökosystem so wichtig ist. "Ich sehe in dieser Hinsicht keine Gefahr", kommentiert Stefano Bargiacchi. "Die großen Themen der Zukunft – Metaverse, NFT, Zahlungen – werden alle abgedeckt."

Ein Aspekt von Open-Source-Software gilt es nicht zu vergessen: Die Software wird im Lauf der Zeit von aktiven Entwicklern verändert. Heute unterscheidet sich der Code von Ethereum (und anderen Blockchains) von dem, was vor ein paar Jahren war, und in ein paar Jahren wird er anders sein als heute. Ebenso wichtig sind die Sicherheit der Computer, falls ein kritischer Fehler im aktualisierten Code auftreten sollte, und die Frage der Kompatibilität mit den vielen dezentralen Anwendungen (dApps), die zum Basis-Layer von Ethereum gehören. "Mit dem Merge wurde die Sicherheit sogar noch verstärkt", erklärt Bargiacchi weiter. "Die kritischen Punkte von Ethereums Layer 1, der Basis-Blockchain, zum Beispiel seine größere Langsamkeit im Vergleich zu anderen Plattformen, sind aus dieser Sicht eigentlich Stärken."

Chancen und Risiken für Investoren

"Mit dem Zusammenbruch von Terra Luna im Mai 2022 hat die Welt der Kryptowährungen ihr Lehman Brothers erlebt, daher bin ich optimistisch für die Zukunft", kommentiert Stefano Bargiacchi. „Ich glaube, dass wir bei den beiden wichtigsten Kryptowährungen Bitcoin und Ethereum den Tiefpunkt erreicht haben oder kurz davorstehen. Natürlich kann es bis zum Jahresende noch zu weiteren, sogar bedeutenden Rückgängen kommen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass der gegenwärtige Zeitpunkt günstig ist, um eine Position in beiden Währungen aufzubauen, vielleicht durch einen monatlichen oder wöchentlichen Sparplan. Allerdings sollte man immer daran denken, dass man nur einen kleinen Teil seines Portfolios in digitale Währungen zu investieren". Worauf Anleger beim Kauf von Kryptowährungen achten sollten, lesen Sie hier.

Bislang galten Investments in Kryptowährungen als rein spekulativ, doch die aktuelle Übergangsphase könnte das radikal ändern. "Jetzt ist die Tür zu Ethereum wirklich offen für das, was ein einmal Versprechen war und nun zu einer konkreten Möglichkeit geworden ist: Durch das dezentrale Anwendungssystem können andere digitale Währungen, aber auch regulierte Finanzmärkte Ethereum beitreten. Alle konkurrierenden Währungen, wie Solana oder Avalanche, werden früher oder später zu Ethereum konvergieren. Das macht sie zugleich weniger interessant, denn wenn ich einen Fuß in Ethereum habe, habe ich auch einen Fuß in vielen anderen Altcoins", erklärt Bargiacchi.

Und Bitcoin, das immer noch an das Proof of Work-Protokoll gebunden ist? "Auch Bitcoin befindet sich in einer Reifephase. Die Korrelation mit der Nasdaq sinkt und angesichts der antiinflationären Geldpolitik und der Volatilität der wichtigsten Währungen der Welt, vom Dollar über den Euro bis zum Pfund, könnte der Bitcoin vielleicht wirklich die Rolle übernehmen, für die er gedacht ist, nämlich als Wertaufbewahrungsmittel, sozusagen als digitales Gold", schließt Stefano Bargiacchi.

 

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Über den Autor

Valerio Baselli

Valerio Baselli  ist Redakteur bei Morningstar.