Risiko, nicht Volatilität, ist der wahre Feind

Schenke uns Anlegern die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Christine Benz 23.06.2022
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Welche Strategie haben Sie in letzter Zeit an Tagen verfolgt, an denen der Markt fiel?

 

a. Ich habe mehr Geld auf mein Konto überwiesen.

b. Ich bin bei dem geblieben, was ich hatte.

c. Ich lasse mein Geld auf dem Konto, bin aber außer mir vor Sorge.

d. Ich ziehe mein Geld ab, weil ich keine weiteren Verluste verkraften kann.

 

Warten Sie einen Augenblick. Antworten Sie nicht. Zugegeben, solche Fragen gehören zum Standardrepertoire von Fragebögen zur Risikobewertung, die Sie überall im Internet finden, und sie beruhen auf einer gut gemeinten Idee. Wenn Anleger die richtigen Anlagen kaufen, sie aber zum falschen Zeitpunkt verkaufen, weil sie mit den Kursschwankungen nicht zurechtkommen, hätten sie die Investments vielleicht besser von vornherein meiden sollen.

Leider sind viele Risikofragebögen nicht sonderlich ergiebig. Zunächst einmal können die meisten Anleger ihre eigene Risikotoleranz schlecht einschätzen. Sie fühlen sich risikofreudiger, wenn der Markt gut läuft, und werden risikoscheuer, wenn sie anhaltende Verluste hinnehmen müssen, wie es in letzter Zeit der Fall war.

Darüber hinaus vermitteln solche Fragebögen die falsche Botschaft, dass es in Ordnung ist, seine eigenen Emotionen in den Investmentprozess einfließen zu lassen, wodurch ein möglicherweise sorgfältig ausgearbeiteter Anlageplan zunichte gemacht wird.

Aber vielleicht am wichtigsten ist, dass die Konzentration darauf, wie Anleger auf kurzfristige Verluste reagieren, die Größen Risiko und Volatilität in unangemessener Weise durcheinanderbringt. Den Unterschied zwischen den beiden zu verstehen und sich auf das Erstere und nicht auf das Letztere zu konzentrieren, ist ein wichtiger Schritt, um sicherzustellen, dass Sie Ihre finanziellen Ziele erreichen.

 

Was für einen Unterschied macht das?

Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als sei die Unterscheidung zwischen Risiko und Volatilität eine rein akademische Angelegenheit, über die sich Finanzfachleute streiten, die aber für Anleger in der Praxis kaum relevant ist. Tatsächlich werden die beiden Begriffe in der Investmentwelt fast wie Synonyme verwendet. Zudem stimmt es, dass die Begriffe - insbesondere Risiko - für verschiedene Menschen unterschiedliche Bedeutungen haben.

Für Anleger ist es jedoch hilfreich, gedanklich zwischen Volatilität und Risiko zu unterscheiden. Was sind die Hauptunterschiede? Zunächst einmal umfasst die Volatilität die Preisänderungen eines Wertpapiers, eines Portfolios oder eines Marktsegments sowohl im Guten (siehe 2019 bis 2021) wie im Schlechten (siehe 2008 und März 2020). Es ist also möglich, eine Anlage mit hoher Volatilität zu halten, die sich bisher nur in eine Richtung entwickelt hat: nach oben.

Noch wichtiger ist, dass sich die Volatilität in der Regel auf die Kursschwankungen eines Wertpapiers, eines Portfolios oder eines Marktsegments innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums bezieht – etwa innerhalb eines Tages, eines Monats oder eines Jahres. Solche Schwankungen sind unvermeidlich, sobald Sie über Einlagenzertifikate, Geldmarktfonds oder Ihr Sparbuch hinausgehen. Wenn Sie in nächster Zeit nicht verkaufen, ist die Volatilität kein Problem und kann sogar Ihr Freund sein, denn sie ermöglicht es Ihnen, mehr von einem Wertpapier zu kaufen, wenn es sich auf einem Tiefpunkt befindet.

Die intuitivste Definition von Risiko dagegen ist die Möglichkeit, dass Sie Ihre finanziellen Ziele und Verpflichtungen nicht erfüllen können oder dass Sie Ihre Ziele neu ausrichten müssen, weil Ihre Investmentkasse zu klein geworden ist.

Unter diesem Gesichtspunkt sollten sich Anleger über das Risiko Gedanken machen, nicht so sehr über die Volatilität. Ein echtes Risiko? Bei Ihren Kindern einziehen zu müssen, weil Sie nicht genug Geld haben, um allein zu leben. Volatilität? Lärm in den Abendnachrichten und vielleicht ein kühler Cocktail am Abend des Tages, an dem der Markt um 800 Punkte fällt.

Es ist jedoch leicht zu erkennen, wie sich die beiden Begriffe miteinander vermischen konnten. Wenn Sie einen kurzen Zeithorizont haben und in eine volatile Anlage investiert sind, ist das, was für jemand anderen lediglich volatil ist, für Sie geradezu riskant. Denn es besteht ein reales Risiko, dass Sie verkaufen müssen und einen Verlust erleiden, wenn sich Ihre Anlage auf einem Tiefpunkt befindet.

Andererseits sind einige der volatilsten Anlagen (insbesondere Aktien) für Sie vielleicht gar nicht so riskant, wenn sie Ihnen helfen, Ihre langfristigen finanziellen Ziele zu erreichen. Umgekehrt es ist möglich, volatile Anlagen komplett zu meiden, aber am Ende doch zu kurz zu kommen, weil Ihre sicheren Anlagen nur geringe Renditen abgeworfen haben. Sie haben zu sehr auf den kurzfristigen Lärm geachtet und dabei das Potenzial der Risiken übersehen.

 

Wie Sie beides in den Griff bekommen

Wie können sich Anleger auf das Risiko konzentrieren und gleichzeitig die Volatilität auf den Platz verweisen, der ihr zukommt? Der erste Schritt besteht darin, sich bewusst zu machen, dass Volatilität unvermeidlich ist und dass Sie sie zu Ihrem eigenen Vorteil nutzen können, wenn Sie einen ausreichend langen Zeithorizont haben. Mit einem Dollar-Cost-Averaging-Programm, etwa dem regelmäßigen Kauf von Aktien können Sie sicherstellen, dass Sie Wertpapiere in einer Vielzahl von Marktumgebungen kaufen, unabhängig davon, ob es sich gut anfühlt oder nicht.

Die Diversifizierung Ihres Portfolios über verschiedene Anlageklassen und Anlagestile kann ebenfalls dazu beitragen, die Volatilität eines Investments zu dämpfen, das für sich allein genommen volatil ist. Zugegeben sind Anleihen in diesem Jahr bisher genauso wie Aktien gefallen; unter anderem aus diesem Grund bin ich dafür, dass Anleger Bargeld halten, um ihren kurzfristigen Ausgabenbedarf zu decken.

Außerdem ist es nützlich, Ihre wahren Risiken zu benennen: Ihre finanziellen Ziele und die Möglichkeit, sie nicht zu erreichen. Für die meisten von uns ist ein komfortabler Ruhestand ein wichtiges Ziel; das Risiko besteht darin, dass wir nicht genug Geld haben, um das Leben zu leben, das wir uns wünschen. Für Menschen mit Kindern ist die Finanzierung des Studiums in der Regel ein Ziel und das Risiko besteht darin, dass Sie nicht genug sparen und Ihr Kind auf andere Finanzierungsquellen für seine Ausbildung zurückgreifen muss. Indem Sie Ziele und Risiken einzeln benennen, können Sie Prioritäten setzen und überlegen, was Sie tun würden, wenn Sie eines Ihrer Ziele nicht erreichen.

Überlegen Sie auch, welche Mischung aus Aktien, Anleihen und Bargeld für jedes dieser Ziele/Risiken angemessen ist. Die Morningstar Lifetime Allocation Indexes oder hochwertige Zielfonds können Ihnen helfen, Ihre Vermögensaufteilung für den Ruhestand zu bewerten. Wenn Sie kurz- oder mittelfristige Ziele haben, ist eine konservativere Vermögensaufteilung angebracht.

Und schließlich sollten Sie Geld, das Sie für kurzfristige Ausgaben benötigen, aus dem Volatilitätsmix heraushalten. Ich bin ein großer Verfechter separater Bereiche eines Portfolios, insbesondere eines Bereichs für Barmittel, die der Anleger voraussichtlich in den nächsten Jahren benötigen wird. Indem Sie einen Teil Ihres Portfolios abtrennen, der unantastbar ist und nicht der Volatilität oder dem Risiko unterliegt, können Sie Schwankungen in der langfristigen Komponente Ihres Portfolios leichter verkraften.

 

STICHWÖRTER
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Über den Autor

Christine Benz  is Morningstar's director of personal finance and author of 30-Minute Money Solutions: A Step-by-Step Guide to Managing Your Finances and the Morningstar Guide to Mutual Funds: 5-Star Strategies for Success. Follow Christine on Twitter: @christine_benz and on Facebook.