Kann Europa seine Abhängigkeit von russischem Gas verringern?

Neben LNG und verbesserten Speichermöglichkeiten ist unserer Ansicht nach eine Rückkehr zur Kohleverstromung die wahrscheinlichste Option

Stephen Ellis 09.03.2022
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Angesichts des andauernden Russland-Ukraine-Konflikts stellen sich Investoren und andere europäische Interessengruppen die Frage, ob es möglich ist, die Abhängigkeit Europas von russischem Gas zu beenden. Um es klar zu sagen: Wir halten das für höchst unwahrscheinlich, aber ein Blick auf die Frage, wie Europa eine solch gewaltige Aufgabe bewältigen könnte, bietet Investoren wichtige Erkenntnisse. 2021 stammten etwa 45% der europäischen Gasimporte aus Russland. Das Land sorgte für 40% des gesamten Gasverbrauchs in Europa, wobei viele Länder fast vollständig von russischem Gas abhängig sind. Der Gesamtverbrauch von russischem Gas in Europa belief sich 2021 auf etwa 155 Milliarden Kubikmeter.

Kürzlich veröffentlichte die Internationale Energieagentur (IEA) einen 10-Punkte-Plan, durch den die Abhängigkeit Europas von russischen Gaslieferungen verringert werden soll. Einige Vorschläge daraus halten wir für realistisch, andere nicht. Offen gesagt scheinen Flüssigerdgas (LNG) und die Umstellung von Gas auf Kohle die besten kurzfristigen Optionen zu sein – und werden hohe finanzielle (rund EUR 200 Milliarden) und emissionsbedingte Kosten für den europäischen Verbrauchern verursachen. Andere Optionen würden jahrelange Investitionen erfordern, bis sie schließlich einsatzbereit sind.

 

Schauen wir uns LNG an

Größte und wichtigste Komponente des Plans ist die verstärkte Nutzung von Flüssigerdgas (LNG), das unseres Erachtens hauptsächlich aus den USA stammen wird. Wir halten das für realistisch, weil es sich um eine Hauptbezugsquelle handelt, die relativ schnell reagieren und globale Ströme umlenken kann, um die Nachfrage zu decken. Die IEA schätzt das zusätzliche Angebot auf etwa 30 Milliarden Kubikmeter, das norwegische Forschungsunternehmen Rystad auf 70 Milliarden Kubikmeter, was zwischen 19% und 45% des russischen Angebots entspricht. Infolge der höheren europäischen Nachfrage nach LNG erwarten wir, dass die enormen Vermarktungsspannen dem US-amerikanischen LNG-Unternehmen Cheniere (LNG) in diesem Jahr Mehrgewinne in Höhe von USD 1,7 Milliarden bis USD 1,8 Milliarden bescheren werden. Wegen des großen Zuflusses kurzfristiger Cashflows haben wir unsere Fair Value-Schätzung für Cheniere Energy von USD 104 auf USD 118 pro Aktie nach oben korrigiert, die von Cheniere Energy Partners von USD 44 auf USD 50 pro Aktie.

Weil die Zulassung der Nord Stream 2-Pipeline gestoppt wurde, fallen rund 40 Milliarden Kubikmeter Gas weg, die bis 2023 hätten geliefert werden können, was die Sache zusätzlich erschwert. In den Gaspreisen scheint eine Unterbrechung der Gasversorgung jedoch mittlerweile eingepreist zu sein. Wir stellen fest, dass eine zweiwöchige Unterbrechung der russischen Gaslieferung über die Ukraine nur etwa zwei Milliarden Kubikmeter betreffen würde, eine Menge, die leicht durch andere Quellen gedeckt werden kann.

 

Speicherprobleme

Der nächste realistischere Vorschlag ist die Erhöhung der europäischen Gasvorräte, um einen größeren Puffer für die winterlichen Versorgungsengpässe zu schaffen. Die IEA schlägt 90% der Kapazität bis zum 1. Oktober vor, ein Vorschlag der Europäischen Kommission liegt bei 80%, verglichen mit 29% zurzeit. Während Gazprom schätzungsweise ein Drittel der Gasspeicher in Europa kontrolliert und daher wahrscheinlich russisches Gas verwendet würde, sehen die Pläne vor, neue Steuern für Energieversorger einzuführen und die Einnahmen zur Beschleunigung von Investitionen in erneuerbare Energiekapazitäten zu verwenden.

Die übrigen Vorschläge der IEA sind unserer Meinung nach eher problematisch. Ende 2022 laufen Gasimportverträge der EU mit Gazprom in Höhe von rund 15 Milliarden Kubikmetern aus. Die IEA scheint der Meinung zu sein, dass diese Versorgung durch eine alternative Quelle ersetzt werden kann. Wir sind der Ansicht, dass die beste alternative Quelle vermutlich LNG ist. Die IEA fordert außerdem eine Beschleunigung der Investitionen in Wind-, Solar-, Bio- und Kernenergie sowie Effizienzsteigerungen durch den Austausch von Gaskesseln. Darüber hinaus mahnt sie die Verbraucher, Energie zu sparen und den Energie-Fußabdruck von Gebäuden zu verbessern.

Ein Teil der Herausforderung besteht darin, dass die erwartete Reduzierung für jeden einzelnen dieser Vorschläge ziemlich gering ist. Sie liegt zwischen zwei und 13 Milliarden Kubikmetern jährlich und das bedeutet, dass wir viele Vorschläge brauchen, um auch nur annähernd den durch LNG möglichen Versorgungsumfang zu erreichen. Zu den weiteren Herausforderungen gehört die Tatsache, dass einige Länder wie etwa Deutschland aus der Kernenergie aussteigen. Wird das Problem der Batteriespeicherung nicht gelöst, um die Schwankungen der erneuerbaren Energien auszugleichen, dann würde eine verstärkte Nutzung erneuerbarer Energien dazu führen, dass sich die Probleme wiederholen, die zu Beginn des Jahres 2021 aufgrund der geringen Windgeschwindigkeit auftraten.

 

Kommt König Kohle zurück?

Tatsächlich halten wir neben LNG die Rückkehr zur Kohleverstromung für die wahrscheinlichste Option. Die IEA schätzt, dass etwa 22 Milliarden Kubikmeter (also 14% des russischen Angebots) mit entsprechend höheren Treibhausgasemissionen gewonnen werden könnten. Die Kosten für den verstärkten Einsatz von Kohle und LNG dürften für die europäischen Verbraucher schmerzhaft werden, da die höheren Kosten direkt auf sie abgewälzt werden, so dass die Regierungen prüfen müssen, ob sie irgendeine Art von finanzieller Unterstützung bereitstellen können (die IEA schätzt, dass etwa EUR 200 Milliarden erforderlich sind).

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Über den Autor

Stephen Ellis  ist Aktienanalyst bei Morningstar