Interview: „Antizyklische Strategien können einem das Leben schwer machen“

Ein Interview mit Klaus Kaldemorgen über die Gefahren extrem tiefer Zinsen, die Folgen der Institutionalisierung des Asset Managements für die Märkte und warum er europäischen Unternehmen den Vorzung vor amerikanischen gibt. 

Ali Masarwah 22.04.2016
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Manche Sachen verändern sich nicht: Dreh- und Angelpunkt eines jeden Gesprächs mit Klaus Kaldemorgen war und ist das große Ganze der Kapitalmärkte. Auch in Kaldemorgens Zeit als Geschäftsführer der DWS (2006 bis 2011) war für den Beobachter schnell zu erkennen, was die Passion des DWS-Urgesteins war. Die holistische Sicht der Dinge ist für den langjährigen Fondsmanager heute wichtiger denn je, hat er sich vor knapp fünf Jahren doch in die Höhle des Absolute-Return-Löwen begeben. Nach einem holprigen Start im Herbst 2011 hat sich die Performance des DWS Concept Kaldemorgen verstetigt; heute hält der Multistrategy Fonds das Morningstar Analyst Rating „Bronze“. Das Gespräch mit Klaus Kaldemorgen fand nach dem für Anleger und Fondsmanager gleichermaßen nervenaufreibenden ersten Quartal 2016 statt, in dem, wie so oft in den vergangenen Jahren, eine Korrektur eingeleitet und wieder abgebrochen wurde. Anlass genug, mit Klaus Kaldemorgen auch über die Frage zu diskutieren, ob die Märkte mit zunehmender Erschließung zugleich irrationaler geworden sind und wie sich die Institutionalisierung der Vermögensverwaltung auf die Märkte auswirkt. 

Herr Kaldemorgen, welche der potenziellen Marktverwerfungen machen Ihnen heute am meisten Sorgen: Die Verlangsamung des Wachstums in China, der mögliche Brexit (Ausstieg Großbritanniens aus der EU), oder ein Zinsanstieg in den USA? 

Kaldemorgen: Alle Themen, die Sie genannt haben, muss man beobachten. Den schwachen Ölpreis würde ich noch hinzufügen. Aber am meisten treibt mich die Sorge um die Politik der EZB  und der Notenbank Japans um. Ich persönlich glaube, dass diese Politik ein Irrweg ist, und die meisten Investoren nehmen zunehmend zur Kenntnis, dass die Nebenwirkungen dieser Politik inzwischen mehr weh tun als die positiven Effekte niedriger Zinsen der Wirtschaft nutzen. Wir begeben uns auf dünnes Eis, vor allem seit Einführung der negativen Zinsen.

Woran machen Sie die sich manifestierenden Sorgen der Investoren fest?

Es ist doch erstaunlich, dass sich der US-Aktienmarkt trotz der sich abzeichnenden Normalisierung der Geldpolitik seit Anfang des Jahres deutlich besser entwickelt hat als die Aktienmärkte Japans und Europas. Die Zuversicht der US-Zentralbank, wieder eine normale Geldpolitik betreiben zu können, hilft den Märkten viel mehr, als die schon fast verzweifelt wirkenden Versuche der Notenbanken in der Eurozone und in Japan, mit immer neuen Werkzeugen die Märkte zu beruhigen. Ich befürchte, dass sie das nicht mehr schaffen werden. Dass die Kurse der europäischen Banken in den ersten drei Monaten um 30% eingebrochen sind, spiegelt auch die Sorgen der Investoren über die rückläufigen Erträge der Banken wider. 

EZB-Präsident Mario Draghi hat die Idee des so genannten Helikoptergelds als „sehr interessant“ bezeichnet. Ist die Ausgabe von Schecks an die Bevölkerung wirklich nötig?

Ich hoffe, dass jeder einigermaßen vernünftige Mensch erkennt, dass Helikoptergeld nun wirklich keinen Sinn ergibt. Außerdem wäre es Sache des Staates, der Regierung, die demokratisch legitimiert ist, Einkommen für die Bevölkerung zu schaffen, sei es durch die Aufnahme von Schulden oder durch Steuererhöhungen. Das ist nicht Sache der EZB. Ich fürchte eher, dass die EZB oder die Personen, die mit solchen Ideen liebäugeln, noch mehr das Vertrauen der Investoren und der Bevölkerung verlieren werden. Das wird die Nervosität der Märkte noch steigern. 

Wo sehen Sie das Einfallstor für mögliche Turbulenzen? Über welches Ventil würde der Dampf aus dem Kessel entweichen? 

Ich sehe die Währungsseite als mögliches Einfallstor. Hier könnten die nationalen Alleingänge ein Ventil schaffen. Eine steigende Volatilität bei den Wechselkursen könnte Turbulenzen an den Märkten auslösen und dann auch auf die Realwirtschaft durchschlagen. Dass sich etwas aufbaut, zeigt, dass die lockere Geldpolitik in Japan und in Europa heute wenig bewirkt. Sie sollte auch die Währungen schwächen, aber das Gegenteil ist zu beobachten: Der Yen und der Euro sind zuletzt stärker gegenüber dem Dollar geworden. Das zeigt, dass die EZB und die Bank of Japan das Ziel, die Währungen zu schwächen so nicht erreichen können; so eine Politik fordert auch Gegenreaktionen heraus. 

Nicht bei Aktien, die von der sich erholenden Konjunktur gestärkt werden, nicht bei Renten, deren Renditen durch die Zinspolitik niedrig gehalten werden, der Druck baut sich über die Währungsseite auf. 

Es ist doch ein interessantes Phänomen, dass die Geldpolitik komplett anders tickt als Realwirtschaft. Europa wächst mit 1%, die USA mit etwa 2%; natürlich könnte es etwas mehr sein, aber die Lage ist eigentlich in Ordnung, da braucht es keine extrem aggressive Geldpolitik. Wir haben im vergangenen Jahr bereits gesehen, dass eine Schwäche des chinesischen Renminbi mit erheblicher Volatilität begleitet werden kann. Auch wenn die Interventionen der chinesischen Notenbank zuletzt nachgelassen haben und sich die Lage offenbar etwas stabilisiert hat, ist der Kurs des Renminbi eine der wichtigsten Größen, die Anleger beobachten sollten. 

Auf welchen Regulator oder Verantwortlichen in der Politik schauen Sie am meisten? 

Auf die europäische Wertpapieraufsicht, die ESMA. Die  Ausgestaltung der EU-Richtlinie Mifid II ist für die Asset-Management-Branche das ganz große Thema. Wir können noch nicht abschätzen, was die Regulierung des Vertriebs für Folgen für unsere Industrie haben wird. Jeder, mit dem Sie aus der Branche sprechen, tappt im Dunkeln, wie sich das Verhältnis zwischen Berater und Kunden gestalten wird. Läuft es auf die Honorarberatung heraus, oder bleibt es beim Provisionsmodell? Die Antwort auf diese Frage wird auch das Kräfteverhältnis zwischen aktivem und passivem Management entscheiden. 

Stichwort Kunde. Vor 20, 30 Jahren war der Privatanleger im Fokus der Vermögensverwaltungsbranche, er trat zumeist als Langfristinvestor auf den Plan, der auch in schwachen Börsenphasen überwiegend auf der Käuferseite zu finden waren. Das hat stabilisierend gewirkt. Hat die zunehmende Institutionalisierung der Fondsindustrie die Märkte taktischer, kurzfristiger gemacht? 

Der Direktanleger ist tatsächlich schon seit Jahren auf dem Rückzug, der Markt wird von Pensionsfonds und anderen institutionellen Anlegern dominiert. Früher stand der Contrarian Investor viel mehr im Vordergrund, mit der zunehmenden Institutionalisierung der Märkte ist das Momentum zur favorisierten Anlagestrategie geworden. Es herrscht heute ein regelrechter Gleichklang an den Märkten, in der Vergangenheit gab es meiner Ansicht nach eine größere Meinungsvielfalt. Heute nutzen die Profis dieselben Analyseinstrumente. Durch die ausgefeilten Tools bekommen Anleger mit Bloomberg, Barra, Reuters zwar bessere Einblicke in die Märkte, aber die Systeme hat jeder, und deshalb kommen die meisten auch zu identischen Schlussfolgerungen. Dann laufen alle so lange mit dem Trend bis er kippt, und dann rennt alles schnell in die andere Richtung. 

Keiner übernimmt heute mehr die Rolle des Contrarian? 

Das ist eine gute Frage. Ich habe das mit meinem Risikomanagement analysiert, und wir sind zum Schluss gekommen, dass eine antizyklische Strategie ungleich riskanter ist als eine Momentum-Strategie. 

Schade eigentlich, oder? 

Ja, ich persönlich muss auch sagen, dass es befriedigender ist, zuzugreifen, wenn die Kurse tief gefallen sind. Aber da gibt es noch die Sache mit dem fallenden Messer. Man denkt, der Boden ist gefunden, und dann kommt es noch dicker. Schauen Sie mal, was nach der Korrektur im August und September 2015 passiert ist. Im Januar und Februar dieses Jahres sind die Märkte noch einmal deutlich nach unten gegangen. Antizyklische Strategien können einem das Leben schwer machen. Wir gehen im Concept Kaldemorgen Contrarian Trades nur sehr bewusst ein, und die dürfen dann auch nicht mehr als ein Drittel des Portfolios ausmachen. Fallende Messer sind einfach zu gefährlich.

Ich persönlich finde es zwar auch befriedigender dann zuzugreifen, wenn die Kurse tief gefallen sind. Aber da gibt es noch die Sache mit dem fallenden Messer

John Maynard Keynes soll gewarnt haben, dass Märkte länger irrational bleiben können als Anleger solvent… 

Ich glaube nicht, dass die Märkte irrational sind.

Ich dachte an Extrembeispiele, wie etwa der Ausverkauf zwischen Juli  2002 und März 2003. Etliche Anleger sind zu ziemlich tiefen Preisen einsteigen, und dann ging es noch mal 7, 8 Monate runter. Wenn die Märkte heute stärker Momentum-getrieben sind, dann könnte so eine Irrationalität an der Tagesordnung sein.

Auf den ersten Blick erscheint die Phase zwischen 1998 bis 2003 tatsächlich irrational. Irrationaler Überschwang auf dem Weg nach oben und irrationale Panik ab 2000 auf dem Weg nach unten. Aber es ließe sich auch die Meinung vertreten, dass der Markt in Summe effizient war, wenn man den Durchschnitt nimmt. Investoren sind nicht irrationaler geworden. Man muss ihr Verhalten im jeweiligen Kontext sehen. Nehmen wir die Situation heute: Angesichts der sehr lockereren Geldpolitik kommt es zu Allokationen, die im Ergebnis zu spekulativen Blasen führen. Im Zusammenhang mit der Niedrigzinspolitik sind solche Investments aber durchaus rational. Im Nachhinein mag man das anders beurteilen, aber wenn man sich in einer derartigen Situation befindet, sind die Gefahren viel schwerer zu erkennen. 

Für die Renditeseite bevorzugen Sie im DWS Concept Kaldemorgen den Aktienmarkt, auf Unternehmensanleihen setzen Sie dann, wenn das Rendite-Risiko-Profil der Aktie unattraktiv ist. In welchen Sektoren ziehen Sie heute den Bond der Aktie vor? 

Bei der Frage, ob man auf die Aktie oder den Bond eines Unternehmens setzt, findet man Ineffizienzen, die Investoren nutzen können. Das mag daran liegen, dass im Asset Management Aktien und Renten immer noch häufig getrennt betrachtet werden. Aktienmanager haben Aktien, Rentenmanager Anleihen im Blick; jeder agiert für sich. Die Arbitrage zwischen Aktien und Anleihen kann eigentlich nur ein Multi-Asset-Manager als Schiedsrichter leisten. Wir hatten eine solche Situation erst vor wenigen Wochen, im Februar und März, als Bonds in den Öl- und Rohstoffbranchen mit Abstand attraktiver waren als die Aktien der Unternehmen. So war es auch 2011 bei Banken und Versicherungen. Wenn der Bond eine Rendite über der langfristigen Aktienrendite hat, dann schaue ich genauer hin. Das Risiko dieser Anleihen ist niedriger als bei Aktien, denn bevor der Bond ausfällt, wird zunächst die Dividende gestrichen, Unternehmensanteile werden verkauft, oder das Unternehmen refinanziert sich über die Aktienseite. Das alles ist schlecht für Aktionäre, aber der Bondhalter ist auf der sicheren Seite. 

In den USA ist die Wirtschaft deutlich robuster  als in Europa. Warum haben sie Europa dennoch übergewichtet? 

Das liegt in erster Linie an der Bewertung. Europäische Aktien sind deutlich günstiger als amerikanische, vor allem bei Nebenwerten, da sind die Bewertungsunterschiede fast schon phänomenal. Dass ich Europa vorziehe, liegt aber auch daran, dass ich hier mehr Aktien finde, die ordentliche und nachhaltige Dividendenrenditen aufweisen. 

In den vergangenen Jahren waren Technologiefirmen wie Facebook, Amazon, Netflix oder Google, auch durch das Akronym „FANGs“ bekannt, die Stützen des US-Aktienmarkts, vor allem 2015. Stehen die FANGs für die typischen erfolgreichen Geschäftsmodelle der Zukunft, oder schlägt das Pendel irgendwann wieder zurück zu den Johnson & Johnsons, Nestlés und so weiter? 

Das wird kein Entweder Oder sein. Es sind ja auch nur eine Handvoll Unternehmen, die ein skalierbares Geschäftsmodell haben und den Aktienmarkt in den USA 2015 getragen haben. In Zukunft wird es eher eine Konvergenz zwischen Old und New Economy geben. Bei den Automobilbauern wird man das vermutlich zuerst sehen. Die neue Netztechnologie wird eine immer größere Rolle spielen, um Geschäftsmodelle zukunftsfähig zu halten. Ähnliches sieht man im Bankensektor, wo sich das klassische Universalbankmodell mit den Fintechs reibt. Auch hier wird es eine Konvergenz geben. Die alten, physisch basierten Geschäftsmodelle werden immer mehr die Möglichkeitendes Internets ausspielen. 

Es wird es eine Konvergenz zwischen Old und New Economy geben. Die neue Netztechnologie wird eine immer größere Rolle spielen, um Geschäftsmodelle zukunftsfähig zu halten

Halten Sie es bis dahin eher mit Tesla oder doch mit einer Daimler? 

Das keine Frage des Prinzips, sondern der Bewertung. Tesla hat einen phänomenalen Job gemacht, und Autohersteller wie Daimler können viel von Tesla lernen. Das Unternehmen wird es noch weit bringen, oder sich später mit einem etablierten Autokonzern zusammentun. Aber Tesla hat gegenüber Unternehmen wie Daimler auch Nachteile. Tesla kann nicht so effizient produzieren oder seine Kapazitäten hinreichend schnell ausbauen. Das kann eine Daimler besser.

Wussten Sie, dass Klaus Kaldemorgen Anfang der 1980er Jahre seine ersten Gehversuche im Fondsmanagement auf der Rentenseite bestritt? Oder dass er mit einem weiteren Wachstum der ETF-Branche rechnet und zugleich optimistisch für aktives Fondsmanagement ist? Lesen Sie hier Teil II des Interviews, in dem der prominente Fondsmanager auch verrät, in welcher Stadt er am liebsten gearbeitet hätte und dass er in seiner Freizeit nicht mehr nur auf einer Harley Davidson unterwegs ist. 

 

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Über den Autor

Ali Masarwah

Ali Masarwah  Ali Masarwah war von 2011 bis Frühjahr 2021 als Chefredakteur für die deutschsprachigen Anleger Websites von Morningstar verantwortlich