Gedanken zur aktuellen Marktvolatilität: Wie weit reicht der Arm der Risikomanager?

Bei der Suche nach den Gründen für die aktuelle Korrektur stehen fundamentale Faktoren im Mittelpunkt. Doch vermutlich spielen auch Absicherungsstrategien eine wichtige Rolle für die Bestimmung der kurz- und mittelfristigen Richtung der Märkte.

Ali Masarwah 13.02.2018
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Wenn doch nur alle Anleger wirklich so furchtlos wären wie die Normannen, dann wäre uns vermutlich jede Menge Ärger erspart geblieben! Wir erinnern uns daran, dass etwa um 50 vor Christus, als der Diktator Julius Cäsar noch bei bester Gesundheit war, die Normannen keine Angst hatten. Deren Kinder fürchteten sich nicht vor Riesen, die normannischen Schlittenfahrer hatten keinen Respekt vor Polizeiwagen, und Schluckauf war damals im hohen Norden eine schier unheilbare Krankheit (Details zu diesem furchtlosen Volk finden Sie hier). Die große Sorglosigkeit vieler Marktakteure in Zeiten einer expandierenden Wirtschaft bei zugleich nicht existenten Zinsen erweckte zeitweilig den Eindruck, dass Anleger die Furcht (und auch jegliche Demut) verloren hatten. Wer bis dato Staatsanleihen gekauft hatte, bewegte sich in den vergangenen Jahren immer mehr in die Hochzins-Ecke, Aktienquoten wurden durch die Bank erhöht, und nicht zuletzt wurden über Derivate Wetten gegen eine Rückkehr der Marktvolatilität eingegangen. 

Doch der Wandel zum Normannen-Anlegertypus war nur ein scheinbarer. In der vergangenen Woche herrschte an den Kapitalmärkten zeitweilig regelrechte Panik. Seitdem wurde viel über die Rückkehr der Volatilität geschrieben. Es spricht einiges dafür, dass die Rückkehr der Angst kurzfristig mehr Zündstoff in sich birgt, als es die Verluste in der vergangenen Woche vermuten lassen. Die Volatilität könnte sich als marktbeeinflussender Faktor selbstständig machen und nicht mehr bloß ein Spiegelbild der Marktnervosität darstellen. Die steigende Volatilität könnte zu mehr Volatilität führen und somit, bildlich gesprochen, einen Dominoeffekt auslösen. 

Am Anfang war der US-Arbeitsmarkt 

Rückblende: Am Anfang der Korrektur vor zehn Tagen standen die Befürchtungen im Vordergrund, dass steigende Zinsen das so heißgeliebte Goldilocks-Szenario zunichtemachen könnten. Am vorletzten Freitag signalisierten die US-Arbeitsmarktdaten einen deutlichen Lohnanstieg, was wiederum Inflationsängste weckte. Es wird nunmehr vielerorts befürchtet, dass die US-Notenbank mit ihrer bisher bedächtigen Richtungskorrektur auf dem falschen Fuß erwischt werden und die Inflation außer Kontrolle geraten könnte. Das würde von steigenden Langfristzinsen begleitet, und das machte Bonds wieder attraktiver. Seitdem wechseln viele Anleger in den so genannten Risk-off-Modus. Sie verkaufen Aktien. 

Bis hierher entspricht dieses Szenario dem Muster einer ganz normalen Aktienmarktkorrektur, die sich mit veränderten fundamentalen Anlageszenarien erklären ließe – zumal die Bewertungen an den Aktienmärkten nach den rasanten Kursgewinnen der vergangenen Jahre recht ambitioniert waren und eine Korrektur allgemein sogar als „gesund“ gelten könnte. So weit, so klar also. 

Verselbstständigt sich die Volatilität? 

Doch es gibt einige Umstände, welche Dauer und Ausmaß der Korrektur zusätzlich beeinflussen könnten. Es gibt Befürchtungen, dass sich in den vergangenen Jahren die Struktur der Märkte verändert hat, sodass es sich heute nicht mehr nur um eine „gesunde“ Korrektur handelt, sondern ein systemimmanent bedingtes Überschießen. Zunächst macht die Heftigkeit der Korrektur und ihre Geschwindigkeit stutzig. Viele Aktienmärkte haben seit ihrem Hoch Ende Januar bereits über zehn Prozent verloren. Ein derart schnelles Einbrechen der Kurse nach Erreichen von Höchstständen ist ungewöhnlich. Zudem haben einige Asset-Klassen seit Beginn der Korrektur untypische Korrelationsmuster aufgewiesen. So hielten sich die Ausschläge bei den Credit-Spreads, also die Risikoaufschläge bei Unternehmensanleihen, in Grenzen. Der Anstieg beim Goldpreis war ebenfalls unspektakulär. Viel unspektakulärer jedenfalls, als der gigantische Anstieg der Volatilität hätte vermuten lassen. Die volatilen Bond-Märkte im Januar mögen zwar den Kursrutsch bei Aktien im Februar ausgelöst haben, aber diese haben dann offenbar eine Art Eigenleben entwickelt. 

Sind die „bösen ETFs“ wieder an allem schuld?   

Werfen wir deshalb einen Blick auf die Volatilität der Märkte als solche. Sie ist seit Anfang Februar immens gestiegen, abzulesen an Barometern wie dem VIX in den USA und dem VSTOXX hierzulande. Es war in den vergangenen Tagen viel die Rede von den Serien-Blowups bei ETNs, die Anlegern einen Zugang zu gehebelten Short-Wetten auf die Volatilitäts-Indizes VIX oder VSTOXX ermöglichen. So wurde in den USA in den ersten Februartagen ein Milliarden-Vermögen in ETNs vernichtet - der VelocityShare ETN von Credit Suisse wies per Ende Januar noch ein Vermögen von 1,5 Milliarden Euro auf. Er wurde nach Verlusten von 96 Prozent vor wenigen Tagen vom Markt genommen. Auch andere so genannte „Vola-short-ETNs“ erlitten Schiffbruch, auch in Europa. So verlor etwa der Commerzbank ETN 2x VSTOXX Daily Short in wenigen Tagen gut 96 Prozent an Wert. 

Ohne Zweifel, die Implosion von Volatilitätsprodukten war spektakulär. Und sie dürfte das Unbehagen vieler Marktteilnehmer über die vermeintliche Gefahr von ETFs „für das System“ bestätigen. Dazu gibt es gute Nachrichten, aber auch schlechte. Zunächst zu den guten Nachrichten. Es ist keine Spitzfindigkeit hervorzuheben, dass unbesicherte ETNs keinesfalls mit ETFs gleichzusetzen sind, die als besicherte Sondervermögen einen ganz anderen Grad an Sicherheit aufweisen als diese Zertifikate, die den Anleger vollumfänglich dem Emittentenrisiko einer Bank aussetzen.

Bei Vola-Produkten dominieren keinesfalls direktionale Strategien 

Zum anderen ist das in diesen Produkten investierte Vermögen sehr überschaubar. Insgesamt kamen Volatilitätsfonds und entsprechende Trading-Instrumente auf Volatilitätsbarometer in Europa per Ende Januar auf ein Vermögen von etwas über acht Milliarden Euro. Das klingt zunächst nach viel, aber der weitaus größte Teil des Vermögens steckt in Anlageprodukten, die eher Arbitrage- als direktionale Strategien verfolgen. Der größte Fonds dieser Kategorie ist der Allianz Volatility Strategy, der per Ende Januar ein Vermögen von gut 1,2 Milliarden Euro auf die Waage brachte. Er verlor in diesem Monat gerade einmal 3,7 Prozent, weniger als so mancher Mischfonds. Der Amundi Funds Absolute Volatility Euro Equities, mit knapp einer Milliarde Euro der zweitgrößte Fonds der Kategorie Alternatives Volatility, legte im Februar sogar um gut 4,5 Prozent zu. Der LRI-Fonds OptoFlex, der ein Vermögen von gut 900 Millionen Euro aufweist, verlor gerade einmal knapp drei Prozent im Februar. 

Kräftig unter die Räder gerieten allenfalls ETNs, die Short-Wetten auf den VIX oder VSTOXX eingehen. Doch die brachten in Europa per Ende Januar gerade einmal gut sechs Millionen Euro (sic!) auf die Waage. Man sollte diese Produkte also tunlichst nicht als Urheber der Marktvolatilität verdächtigen. Auch in den USA nicht, wo sich das Vermögen in Produkten der alternativen Fondskategorie „Volatilität“ ebenfalls auf recht bescheidene 4,8 Milliarden Euro per Ende Januar belief, wobei es sich längst nicht nur um ETNs handelt, sondern auch aktiv verwaltete Produkte, die nicht nur direktionale Wetten auf den VIX eingehen. Es ist also ausgeschlossen, dass ETNs, und schon gar nicht „die ETFs“, den Crash verursacht haben können. (Die ETF-Kritiker werden zwar weiter ihre Messer wetzen, aber halten wir fest, dass auch diese Runde nicht an sie gegangen ist!)

Wer handelt mit der Volatilität? 

Doch es gibt auch schlechte Nachrichten die aktuelle Korrektur betreffend, und die haben es in sich. Zum einen deutet der explosionsartige Anstieg der Umsätze in Volatilitäts-Trades in den letzten Jahren an den Terminbörsen darauf hin, dass längst nicht nur Banken und Asset Manager dort mit ihren „Notes“ unterwegs sind. Offenkundig haben zahlreiche andere Investoren auf fortdauernd ruhige Märkte gewettet. Diese Strategie ist einige Jahre gut gegangen. Mit Vola-Short-Trades auf Aktienmarktschwankungen ließen sich etwa im Jahr 2017, als kein Sturm die Märkte trübte, dreistellige Prozent-Gewinne vereinnahmen. Dass in der Vergangenheit die Phasen steigender Kurse dominierten und sich Long-Volatility-Strategien folglich a la longue als sichere Verlustbringer erwiesen, mag Short-Volatility-Wetten für einige Anleger optisch attraktiv gemacht haben. Implodierende ETNs dürften also nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs darstellen mit Blick auf solche Trades, welche die Schwankungen an den Märkten nunmehr intensivieren. 

Doch das ist nicht alles: Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass in den nächsten Wochen und vielleicht auch Monaten die Kurse an den Märkten verstärkt schwanken werden. Denn in der Fondsindustrie und auch bei Versicherungen sind in diesen Zeiten so genannte Zielvolatilitäts-Strategien en vogue. Dieses Thema ist inzwischen in der Mitte der Investmentwelt angekommen, da inzwischen viele Mischfonds und andere gemanagte Portfolios, etwa auch Variable Annuities, nach vorab definierten Volatilitäts-Bändern gesteuert werden. 

Steigt die Volatilität an den Märkten und werden bestimmte Volatilitäts-Marken gerissen, wird das Fondsvermögen prozyklisch umgeschichtet. Das bedeutet, dass Aktien verkauft und sichere Anleihen gekauft werden oder aber das Fondsvermögen in Cash umgeschichtet wird. Für sich genommen mögen solche Strategien sinnvoll sein. Denn im Gegensatz zur Vergangenheits-Performance, die bekanntlich kein guter Indikator für künftige Renditen darstellt, ist die realisierte Volatilität ein nützlicher Hinweis für die künftige Schwankungsbreite der Märkte. Ein rechtzeitiger Ausstieg aus einem zusehends volatiler werdenden Markt hätte zumindest bei den großen Crashs 2000-2003 und 2007-2009 Portfolios vor den schlimmsten Drawdowns bewahrt (das ist wertneutral beschrieben und bedeutet nicht, dass solche Strategien sich auch in den nachfolgenden, haussierenden Märkten gut behauptet hätten). 

Immer mehr Fonds handeln nach dem Motto „Rette sich wer kann“ 

Doch was für einzelne Fondsstrategien möglicherweise sinnvoll ist, kann sich in der Masse verheerend auswirken. Wenn immer mehr Fonds bzw. Portfolios bei steigender Volatilität die Reißleine ziehen, resultierte daraus eine wiederum steigende Volatilität, die dann neue Risiko-Schwellen reißen und einen sich weiter verstärkenden Effekt auslösen würde. Dann wäre der vielzitierte Dominoeffekt gegeben. Wenn also die sprichwörtliche Hausse die Hausse nährt, so gilt das spiegelbildliche Motto heute umso mehr: Die Baisse nährt die Baisse. 

Das tückische an der Sache ist, dass gemanagte Portfolios nicht mit einheitlichen Volatilitätsbändern arbeiten und auch die den Strategien zugrunde liegenden Korrelationsmodellen unterschiedlich sind. Viele, aber längst nicht alle, verfolgen Trendfolgestrategien, die wiederum mit unterschiedlichen Durchschnittslinien und anderen markttechnischen Parametern arbeiten. Völlig unklar ist auch, wie groß das Vermögen dieser Portfolios ist. Vor wenigen Tagen hat der Hedgefondsanbieter Bridgewater geschätzt, dass sich das Vermögen in nach Volatilität gesteuerten Portfolios auf 350 Milliarden Dollar beläuft. Das Beratungshaus Oliver Wyman taxiert das Vermögen, das Target-Volatility-Fonds jüngst auf den Markt geworfen haben, auf „80 bis 100 Milliarden Dollar“. Der freundliche Metzger um die Ecke würde jetzt vermutlich sagen: „Dürfen es noch 100 Gramm mehr sein?“, oder, anders gesagt: nichts Genaues weiß man nicht. 

Auch wenn klar ist, dass bei einer steigenden Portfolio-Volatilität immer mehr prozyklische Risikomodelle greifen, so lässt sich nicht prognostizieren, ab welchen Marktschwellen Verkaufsorders ausgelöst werden – geschweige denn, wann ein Abebben der Marktschwankungen ansteht. 

Fazit

Anleger müssen in der derzeitigen Korrektur bedenken, dass sie kurzfristig weder mit einer makro-orientierten Sicht („das Wirtschaftswachstum ist intakt“), noch mit einem Blick auf die Unternehmenswelt („die Unternehmensgewinne sind solide“) zu einer belastbaren Marktprognose kommen können, da in den nächsten Wochen möglicherweise die Risikomanager an den Märkten das Sagen haben werden. Plausibel erscheint allenfalls die Allerweltthese, dass die Kurse schwanken und vorerst weiter schwanken werden. Für langfristig orientierte Anleger bleibt unter den Strich freilich die höchst relevante Erkenntnis: A la longue sind Marktkorrekturen, egal, wie sie ausgelöst wurden, gute Kaufgelegenheiten. 

Die Tatsache, dass die Unternehmensebene bisher von der Korrektur nicht wesentlich berührt wurde, bedeutet auch, dass die Nenner der gängigen Bewertungskennzahlen, etwa der Unternehmensgewinn oder der Buchwert, – vorerst – aussagekräftig bleiben. Derzeit verändert sich nur der Zähler, und das macht die Sache spannend. In dem Maße, in dem die Kurse abschmelzen, werden die Bewertungen attraktiver. Anleger finden also im Wert eines Unternehmens nach wie vor einen wichtigen Halt, egal, was die nervösen Finger der Risikomanager demnächst so alles bewegen werden. Übrigens haben auch die Normannen etwa um das Jahr 50 vor Christus erfahren, was Angst bedeutet. Ob sie dadurch Demut gelernt haben und dadurch zu besseren Investoren geworden sind, ist indes nicht belegt.

 

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Über den Autor

Ali Masarwah

Ali Masarwah  Ali Masarwah war von 2011 bis Frühjahr 2021 als Chefredakteur für die deutschsprachigen Anleger Websites von Morningstar verantwortlich