Interview: Value Comeback 2017 oder die Ankunft des Godot

Ein Gespräch mit Nick Sheridan, Fondsmanager des Henderson Euroland Fund, über das mögliche Comeback von Substanzwerte-Investments in Europa. Und über die potenziellen Gesundheitsschäden von Deep-Value Investments bei Anlegern und Fondsmanagern.

Ali Masarwah 06.06.2017
Facebook Twitter LinkedIn

Bildlich gesprochen war die Welt für Value-Investoren seit der Finanzkrise eine knochentrockene Wüste. Dann, in der zweiten Jahreshälfte 2016 kam der lang ersehnte Regen, und Anfang 2017 lagen Value-Indizes in der Zwölfmonatsbilanz sehr, sehr weit vor ihren Growth-Pendants. Jetzt, fast ein halbes Jahr später hat sich das wieder umgekehrt, Growth liegt wieder deutlich vor Value. Wir hakten bei Nick Sheridan, Fondsmanager des Henderson Euroland Fund nach.

 

Herr Sheridan, man muss sich jetzt, nur wenige Monate nach dem Comeback von Value 2016 fragen, ob das nur ein kurzes Zwischenspiel war und eben nicht der Anfang einer lang anhaltenden Erholungs-Rally.

Ich denke nicht, dass die zweite Jahreshälfte 2016 ein Strohfeuer war. Aber ich glaube, dass der Wahlsieg von Donald Trump falsche Erwartungen bei vielen Anlegern geweckt hat. Sie haben offenbar erwartet, dass nunmehr zügig gigantische Infrastrukturausgaben getätigt würden und der US-Wirtschaft eine starke Expansion bevorstehe. Doch dann hat sich in den ersten Monaten dieses Jahres gezeigt, dass die Wachstumserwartungen – zumindest derzeit -- ein ungedeckter Wechsel waren. Es ist nun einmal keine leichte Sache, mal eben die US-Wirtschaft zu reflationieren. Dass der Trump‘sche Zauber nicht zieht, hat viele Investoren offenbar enttäuscht, und dann sind sie wieder zu dem Trade zurückgekehrt, der so lange Jahre funktioniert hat – Growth-Aktien sind wieder im Fokus, und das spiegelt sich auch in den ersten fünf Monaten dieses Jahres an der Börse wider -- in den USA wie auch in Europa.

Und nun?

Ich bin alles andere als resigniert, im Gegenteil: Die Mehrheit der Marktteilnehmer ist nicht überzeugt, dass sich die Gewinnsituation europäischer Unternehmen nachhaltig verbessert hat. Sie lassen günstig bewertete Titel links liegen und setzen stattdessen wieder auf teure Growth-Aktien. Diese Skepsis über die Wachstumsperspektiven europäischer Unternehmen war in der Vergangenheit auch angemessen. Erinnern wir uns an das typische Muster der vergangenen Jahre. Zu Jahresbeginn haben die Analysten ambitionierte Gewinnziele ausgerufen, und nach ein, zwei enttäuschenden Quartalen haben sie ihre Erwartungen wieder gesenkt. In dem Umfeld niedrigen Wachstums und niedriger Inflation hat immer wieder eine kleine Gruppe an Unternehmen gute Wachstumszahlen hingelegt: nichtzyklische Wachstumsunternehmen. Die wurden systematisch hochgekauft.

Eine Traumkonstellation für Growth-Investoren, absolut. Und Value blieb auf der Strecke.

Ja, in der Vergangenheit schon. Die Zukunft sieht aber anders aus, denn jetzt kommt es: Die Gewinnerwartungen der Analysten wurden in diesem Jahr bisher nicht enttäuscht, sie haben sich vielmehr bestätigt. Die Umsätze der Unternehmen steigen, die Gewinnmargen, alles zeigt auf eine Erholung der Profitabilität europäischer Unternehmen. Es ist ungewöhnlich und auch unlogisch, dass in einer solchen Situation Value-Aktien nicht anspringen und der Growth-Trade anhält.

Vielleicht ist die Situation nicht nachhaltig? Was halten wir in den Händen? Ein, zwei Monate mit höheren Inflationsraten und Unternehmen, die bangen müssen, dass der Welthandel nicht durch Protektionismus und Populismus in die Krise gerät.

Im Gegensatz zu den luftigen Hoffnungen, die dem sogenannten Trump-Trade zugrunde lagen, sind die Zahlen, die wir heute in den Händen halten, absolut real: Europa ist die einzige Region in der entwickelten Welt, in der sich die Gewinnsituation der Unternehmen nachhaltig verbessert hat und der Markt diese offenkundige Erholung nicht einpreist. Genau das ist die Chance, die ich heute sehe: Die Erholung entfaltet sich vor aller Augen, und keiner glaubt daran. Das ist doch das Schöne an Value-Investments, keiner will an die Story glauben, und die antizyklischen Investoren profitieren.

Was wird der Trigger sein, der Auslöser für eine Value-Rally?

Ich denke, der Auslöser wird bei einer Bestätigung durch die Zahlen für das zweite, spätestens das dritte Quartal kommen. Ihre Frage sehe ich als typisch für die Herangehensweise vieler Investoren an, vor allem solchen aus den USA: Schon seit Jahren haben sie vergeblich auf ein positives Umfeld für Aktien aus der Eurozone gewartet, und nur wegen drei, vier guten Monaten stellen sie ihr Investmentszenario nicht um. Ja, wir sind in einem frühen Stadium der Erholung, aber, wie gesagt, die allgemeine Wahrnehmung wird sich an die neue Realität anpassen.

Oder auch nicht. Man könnte die These aufstellen, dass Europa der Entwicklung in den USA hinterherhinkt, aber dass die Kräfte identisch sind: Nach dem Absturz kommt die Erholung. Nach der Finanzkrise sind US-Unternehmen seit Jahren wieder im Aufschwung, aber dennoch laufen Wachstumswerte dort seit Jahren Value den Rang ab, auch wenn die Unternehmen vor lauter Gewinne kaum noch laufen können. Uns in Europa ist 2010 die Eurokrise reingegrätscht, die Erholung mag kommen, aber schaut man sich das Muster in den USA an, dann könnten einem Zweifel kommen, ob die Value-Erholung wirklich so lehrbuchartig kommen wird.

Oje, jetzt werden Sie aber grundsätzlich. Also gut, dann gehen wir jetzt in die 1930-er Jahre zurück. Damals wurde Value-Investing als Disziplin geboren. Seitdem hat es immer wieder sehr lange Phasen gegeben, in denen Growth vor Value lag. Argumente, die den Ihren ähneln, wurden immer wieder vorgebracht. Aber am Ende hat Value alles überdauert: Einen Weltkrieg, die vielen technologischen Innovationen der Nachkriegsära, die „Nifty Fifty“ Zeit der Siebziger. Jede dieser Phasen hatte ihre Growth-Stars und sie hatten und haben tatsächlich auch die Fähigkeit, die Gesellschaft zu verändern. Aber am Ende hat sich – ungeachtet langer Durststrecken – Value durchgesetzt.

Nun ja, inzwischen gibt es auch unter den Vorreitern der Bewegung Zweifler, etwa Jeremy Grantham, Gründer des Asset Managers GMO, seines Zeichens ein prominenter Value-Verfechter. Er hat sinngemäß gesagt, vielleicht kommen die guten alten Zeiten doch nicht zurück? In Zeiten sehr niedriger Zinsen sei es kein Wunder, dass Anleger Aktien höhere Bewertungen zugestehen. Klassische Kennzahlen wie das Kurs-Gewinn-Verhältnis sind vielleicht nicht mehr das Maß aller Dinge? 

Nein, absolut nicht, das haben ja Benjamin Graham und David Dodd in Security Analysis klar herausgearbeitet. Übrigens gab es nach dem Zweiten Weltkrieg schon einmal eine Phase, in der die Zinsen künstlich niedrig gehalten. Es gab total verzerrte Asset-Preise und ein Missverhältnis bei der Bewertung von Anleihen zu Aktien. Das erinnert doch irgendwie an heute, oder? Danach stieg die Inflation deutlich an, die Anleiherenditen schossen nach oben, und die Nifty Fifties hat es auch erwischt. Treten wir noch einen Schritt zurück. Worum es mir geht ist die Ertragsrendite. Die wiederum ist eine Funktion der Investitionsrendite und des Kurs-Buchwerts, den Sie für ein Unternehmen bezahlen. Unternehmen mit höheren Renditen auf das investierte Kapital rechtfertigen einen höheren Kurs-Buchwert. In einem Umfeld, in dem Wachstum rar ist, verzeichnen nur wenige Unternehmen ohne Fremdkapitaleinsatz hohe Renditen. Jetzt sehen wir eine Normalisierung der Ertragslage in Europa, und das wird die Basis der Profiteure verbreitern. Bedenken Sie auch, dass Europas Unternehmen einen höheren Kostensockel haben als etwa amerikanische. Das mag die Erholung der Gewinnsituation verzögern, setzt aber keinesfalls mathematische Wahrheiten außer Kraft. So lange keine Hexerei im Spiel ist, wird Value auf absehbare Zeit outperformen.

Europäische Value-Investoren warten bereits seit 2007 auf einen Trendwechsel. Das ist eine lange Zeit.

Ja, es hat dieses Mal sehr lange gedauert, aber die Durststrecke, unter der viele Investoren zu leiden haben, ist auch Folge einer zu rigiden, schematischen Definition von Value. Ich halte es für problematisch, starre Maße anzuwenden, etwa eine hohe Dividendenrendite oder ein niedriges Kurs-Gewinn-Verhältnis. Nur weil jemand 100 Euro für etwas bezahlt hat, bedeutet das nicht, dass es auch für mich einen Wert von 100 Euro hat. Die Rendite entscheidet über die Werthaltigkeit eines Unternehmens, weshalb ich die Fähigkeit eines Unternehmens, eine hohe Rendite auf seine Investments zu erzielen als den entscheidenden Aspekt seiner Werthaltigkeit erachte. Ein typisches Value-Unternehmen für mich ist in der Lage, ohne den Einsatz von Fremdkapital eine überdurchschnittliche Rendite auf seine Investments zu erzielen, die sich noch nicht im Kurs-Buchwert niedergeschlagen hat. Das ist ein antizyklisches Signal. Die Differenz signalisiert übrigens nicht nur Chancen, sondern auch Bedrohungen für den Eigenkapitalinvestor. Es geht mir also nicht nur um einen abstrakten Wert, sondern um die Fähigkeit eines Unternehmens, Cashflows zu generieren. Entscheidend ist also nicht die Dividenden-Rendite. Ich halte Dividenden in erster Linie deshalb für sinnvoll, weil sie Unternehmen davon abhält Geld zu verschwenden – denken Sie nur an die vielen Übernahmen, die Kapital vernichten.

Schaut man sich Ihr Portfolio an, dann findet man tatsächlich etliche Positionen, die man nicht unbedingt einem Value-Investor zutrauen würde. Rohstoffe sind etwa deutlich übergewichtet, und es gibt keinen Sektor in Europa, der höher bewertet ist. Das klingt nicht nach Antizyklik.

Ich bin in dem Sektor schon lange übergewichtet, und zwar substanziell seit September 2016. Sie müssen also den Zeitpunkt des Einstiegs berücksichtigen.

Sie könnten, jetzt, da die vorherige Unterbewertung offensichtlich abgebaut wurde, Gewinne mitnehmen.

Ich könnte, aber ich sehe tatsächlich noch Potenzial.

Können Sie das beziffern?

Nein, denn ich setze mir bewusst keine Kursziele. Kursziele mögen zwar Orientierung geben, aber häufiger engen sie einen ein. Die Welt verändert sich, und auch wenn man Kursziele an Veränderungen anpassen kann, bleiben sie irgendwo hängen.

Wie disziplinieren Sie sich?

Ich nehme dann Gewinne mit, wenn Aktien nach meinen Kriterien überbewertet sind. Vielleicht hilft Ihnen diese allgemeine Charakterisierung weiter: Das Gesamtportfolio hat typischerweise überdurchschnittlich viele gefallene Engel, das Kurs-Gewinn-Verhältnis liegt typischerweise unter dem des allgemeinen Marktniveaus, die Dividendenrendite pendelt in etwa um das Marktniveau, die Anlagerendite ist höher, der Leverage niedriger, die operative Margen sind höher, der Cashflow ist höher und so weiter.

Wenn man davon ausgeht, dass Value und Growth zwei Seiten einer Medaille sind, dann stellt sich die Frage, ob Sie mit Ihrer Ausrichtung auf Unternehmensgewinne überhaupt in die Value-Schublade gehören. Vielleicht sollte man Sie auch als Growth-Investor bezeichnen – GARP, also Growth at a reasonable price , hat es ja zu einem Akronym in der Investmentsprache gebracht.

Das ist mir herzlich egal.

Aber Ihr Arbeitgeber Henderson hat Sie in die Value Schublade verfrachtet.

Ja, aus einem einfachen Grund: Dieser Fonds ist ein typischer American-style Value-Fonds. Er trägt den Stempel der Columbia Business School a la Benjamin Graham. Das ist ganz was anderes als Deep Value, ein Stil, den viele Investoren fälschlicherweise stellvertretend für Value ansehen. Das bin ich eindeutig nicht. Fonds, die so einen Ansatz haben, zeichnen sich in toto durch ein niedriges Kurs-Gewinn- und niedriges Kurs-Buchwertverhältnis sowie durch hohe Dividendenrenditen aus. Dieser Ansatz setzt auf die tief gefallenen Unternehmen. Ich sage nicht, dass er nicht funktioniert, aber der Erfolg kann sehr lange auf sich warten lassen und die Kursgewinne kommen typischerweise abrupt, nämlich dann, wenn sich die Konsolidierungsgewinner abzeichnen. Zum einen bilde ich mir nicht ein, unter vier oder fünf Pleitekandidaten den Überlebenden einer Konsolidierung richtig prognostizieren zu können. Zum anderen ist die Volatilität bei so einem Ansatz immens. Als Anbieter eines offenen Fonds kann man nicht davon ausgehen, dass alle Investoren ein derartiges Auf und Ab aushalten können. Ich verfolge einen eher robusten Ansatz und diversifiziere hinreichend. Ich möchte schließlich ruhig schlafen können, und es ist auch nicht mein Ziel, dass Investoren wegen mir graue Haare bekommen.

Die Fragen stellte Ali Masarwah

Facebook Twitter LinkedIn

Über den Autor

Ali Masarwah

Ali Masarwah  Ali Masarwah war von 2011 bis Frühjahr 2021 als Chefredakteur für die deutschsprachigen Anleger Websites von Morningstar verantwortlich